Mark Twain Boyhood Home & Museum (MO)
(Letzte Änderung: 9.10.2024 @ 16:44)Tom ist Waise. Zusammen mit seinem Halbbruder Sid, seiner Cousine Mary und dem schwarzen Sklaven Jim lebt er bei seiner Tante Polly in St. Petersburg. Nein, nicht das St. Petersburg in Florida, sondern eine fiktive Kleinstadt in Missouri am Ufer des Mississippi.
Tom ist nicht gerade das, was man sich unter einem tugendhaften amerikanischen Musterknaben vorstellt. Eher einer wie Pippi Langstrumpf - er schwänzt die Schule, lebt in den Tag hinein, prügelt sich und streunt mit seinem Freund Huckleberry Finn durch die Gegend. Huck ist ein Herumtreiber ohne festen Wohnsitz. Mutter tot, Vater Alkoholiker. Auch kein Paradebeispiel für wohlsituierte amerikanische Familienidylle.
Insgesamt hat Mark Twain für damalige Verhältnisse - die Geschichte von Tom und Huck entstand 1876 - ein ziemlich gegen den Strich gebürstetes Werk geschaffen.
Die vielleicht berühmteste Passage aus Die Abenteuer von Tom Sawyer (Mark Twain, 1876) zitiere ich gekürzt:
"Er [Tom; D.M.] kam ein bißchen spät nach Hause, und indem er behutsam in das Fenster kletterte, entdeckte er einen Hinterhalt in Gestalt seiner Tante; und als sie den Zustand seiner Kleider sah, war ihr Entschluß unumstößlich gefaßt, ihn am Samstag in strenge Haft zu nehmen und ordentlich schwitzen zu lassen.
Samstag morgen war gekommen, und es war ein heller, frischer Sommermorgen und sprühend von Leben. Jedes Herz war voll Gesang, und wessen Herz jung war, der hatte ein Lied auf den Lippen. Freude glänzte auf allen Gesichtern, und die Lust, zu springen, zuckte in aller Füße. Die Akazien blühten, und ihr süßer Duft erfüllte die Luft. ...
Tom erscheint auf der Bildfläche mit einem Eimer voll Farbe und einem großen Pinsel. Er überblickte die Umzäunung - und aller Glanz schwand aus der Natur, und tiefe Schwermut bemächtigte sich seines Geistes. Dreißig Yards lang und neun Fuß hoch war der unglückliche Zaun! Das Leben erschien ihm traurig. Er empfand sein kleines Dasein als Last. Seufzend tauchte er den Pinsel in den Topf und strich einmal über die oberste Planke, wiederholte die Operation, und nochmals, und verglich das kleine gestrichene Stückchen mit der unendlichen noch zu erledigenden Strecke - und hockte sich entmutigt auf einen Baumstumpf. ...
Aber Toms Energie hielt nicht lange an. Er begann, an all die Streiche zu denken, die er für heute geplant hatte, und sein Kummer wurde immer größer. Bald würden seine Spielgefährten, frei und sorgenlos, vorbeikommen, um auf alle möglichen Expeditionen auszugehen und die würden ihre Witze reißen über ihn, der dastand und arbeiten mußte -der bloße Gedanke daran brannte wie Feuer: Er kramte seine weltlichen Schätze aus und hielt Heerschau: allerhand selbsterfundenes Spielzeug, Murmeln und Plunder - genug, um sich einen Arbeitstausch zu erkaufen, aber nicht genug, um dadurch auch nur für eine halbe Stunde seine Freiheit zu bekommen. So steckte er seine armselige Habe wieder in die Tasche und gab den Gedanken auf, einen Bestechungsversuch bei den Jungen zu machen.
Mitten in diese trüben und hoffnungslosen Betrachtungen kam plötzlich ein Einfall über ihn. Durchaus kein großer, glänzender Einfall. Er nahm seinen Pinsel wieder auf und setzte ruhig die Arbeit fort. Ben Rogers erschien in Sicht, der Junge aller Jungen, der sich über alle lustig machen durfte. Bens Gang war springend, tanzend, hüpfend -Beweis genug, daß sein Herz leicht und seine Gedanken und Pläne großartig waren. Er knupperte an einem Apfel und ließ ein langes, melodiöses ho! ho! hören, gefolgt von einem gegrunzten: ding, dong, ding! ding! ding, dong, dong! - denn er war in diesem Augenblick ein Dampfboot. Als er näher kam, mäßigte er seine Geschwindigkeit, nahm die Mitte der Straße, bog nach Steuerbord über und legte elegant und mit vielem Geschrei und Umstand bei, denn er vertrat hier die Stelle des 'Big Missouri' und hatte neun Fuß Tiefgang. Er war Dampfboot, Kapitän, Bemannung zugleich und sah sich selbst auf der Kommandobrücke stehend, Befehle gebend und ihre Ausführung überwachend. ...
Tom war ganz vertieft in seine Anstreicherei, er merkte nichts von der Ankunft des Dampfbootes! Ben blieb einen Moment stehen, dann sagte er: 'Ho, ho, Strafarbeit, Tom, he?' Keine Antwort. Tom überschaute seine Arbeit mit dem Auge eines Künstlers. Dann machte er mit dem Pinsel noch einen eleganten Strich und übte wieder Kritik. Ben rannte zu ihm hin. Tom wässerte den Mund nach dem Apfel, aber er stellte sich ganz vertieft in seine Arbeit. Ben sagte: 'Hallo, alter Bursche, Strafarbeit, was?' 'Ach, bist du's, Ben. Ich hatte dich nicht bemerkt.' 'Weißt, ich geh' grad zum Schwimmen. Würdest du gern mitgehen können? Aber natürlich, bleibst du lieber bei deiner Arbeit, nicht?' Tom schaute den Burschen erstaunt an und sagte: 'Was nennst du Arbeit'?' 'Na, ist das denn keine Arbeit?' Tom betrachtete seine Malerei und sagte nachlässig: 'Na, vielleicht ist das Arbeit, oder es ist keine Arbeit, jedenfalls macht es Tom Sawyer Spaß.' 'Na, na, du willst doch nicht wirklich sagen, daß dir das da Spaß macht?!' Der Pinsel strich und strich. 'Spaß? Warum soll's denn kein Spaß sein? Kannst du vielleicht jeden Tag einen Zaun anstreichen?'
Ben erschien die Sache plötzlich in anderem Licht. Er hörte auf, an seinem Apfel zu knuppern. Tom führ mit seinem Pinsel bedächtig hin und her, hin und her, hielt an, um sich von der Wirkung zu überzeugen, half hier und da ein bißchen nach, prüfte wieder, während Ben immer aufmerksamer wurde, immer interessierter. Plötzlich sagte er: 'Du, Tom, laß mich ein bißchen streichen!' Tom überlegte, war nahe daran, einzuwilligen, aber er besann sich: 'Ne, ne. Ich würde es herzlich gerne tun, Ben. Aber - Tante Polly gibt so viel gerade auf diesen Zaun, gerade an der Straße - weißt du. Aber wenn es der schwarze Zaun wäre, wär's mir recht und ihr wär's auch recht. Ja, sie gibt schrecklich viel auf diesen Zaun, deshalb muß ich das da sehr sorgfältig machen! Ich glaube von tausend, was - zweitausend Jungen ist vielleicht nicht einer, der's ihr recht machen kann, wie sie's haben will.' 'Na - wirklich? - Du - gib her, nur mal versuchen, nur ein klein - bißchen versuchen. Ich würde dich lassen, wenn's meine Arbeit wäre, Tom.' 'Ben, ich würd's wahr - haf - tig gern tun; aber Tante Polly - weißt du, Jim wollt's auch schon tun, aber sie ließ ihn nicht. Sid wollte es tun, aber sie ließ es ihn auch nicht tun! Na, siehst du wohl, daß es nicht geht? Wenn du den Zaun anstrichest und es passierte was, Ben -' 'O, Unsinn! Ich will's so vorsichtig machen! Nur mal versuchen! Wenn ich dir den Rest von meinem Apfel geb'?' 'Na, dann - ne, Ben, tu's nicht, ich hab' solche Angst -!" "Ich geb' dir den ganzen Apfel!'
Tom gab mit betrübter Miene den Pinsel ab ... schlug die Beine übereinander, verzehrte seinen Apfel und grübelte, wie er noch mehr Unschuldige zu seinem Ersatz anlocken könne. Opfer genug waren vorhanden. Jeden Augenblick schlenderten Knaben vorbei. Sie kamen, um ihn zu verhöhnen und blieben, um zu streichen. Nach einiger Zeit war Ben müde geworden, Tom hatte als Nächsten Billy Fisher ins Auge gefaßt, der ihm eine tote Ratte und eine Schnur um die Ratte daran durch die Luft fliegen zu lassen, anbot; und von Johny Miller bekam er eine gut erhaltene Sackpfeife, und so immer weiter - stundenlang. Und als der Nachmittag halb vergangen war, war aus dem armen, verlassenen Tom vom Morgen ein buchstäblich in Reichtum schwimmender Tom geworden. Er besaß außer den angeführten Sachen zwölf Murmeln, ein Stück eines Brummeisens, ein Stück blau gefärbtes Glas zum Durchschauen, eine Spielkanone, ein Messer das gewiß nie jemand Schaden getan hatte oder jemals tun konnte, ein bißchen Kreide, ein Glasstöpfel, einen Zinnsoldaten, den Kopf eines Frosches, sechs Feuerschwärmer, ein Kaninchen mit einem Auge, einen messingen Türgriff, ein Hundehalsband (aber keinen Hund), den Griff eines Messers, vier Orangenschalen und einen kaputten Fensterrahmen. Er hatte einen sorglosen, bequemen, lustigen Tag gehabt, eine Menge Gesellschafter - und der Zaun hatte eine dreifache Lage Farbe bekommen! Wäre nicht der Zaun jetzt fertig gewesen - Tom hätte noch alle Jungens des Dorfes bankrott gemacht. Tom dachte bei sich, die Welt wäre schließlich doch wohl nicht so buckelig. Er war, ohne es selbst recht zu wissen, hinter ein wichtiges Gesetzt menschlicher Tätigkeit gekommen, das nämlich, daß, um jemand, groß oder klein, nach etwas lüstern zu machen. Wäre er ein großer und weiser Philosoph gewesen, gleich dem Verfasser dieses Buches, er würde jetzt begriffen haben, daß, was jemand tun 'muß', Arbeit, was man freiwillig tut, dagegen Vergnügen heißt. Er würde ferner verstanden haben, daß künstliche Blumen machen oder in der Tretmühle ziehen, 'Arbeit' ist, Kegelschieben aber, oder den Mont Blanc besteigen, 'Vergnügen.' Es gibt reiche Engländer, die einen Viererzug zwanzig bis dreißig Meilen in einem Tage laufen lassen, weil dieser Spaß sie einen Haufen Geld kostet; würden sie aber dafür bezahlt werden, so würden sie es als 'Arbeit' ansehen und darauf verzichten."
Den berühmten Zaun kann man besichtigen. Er steht, wie oben erwähnt an der Hill Street in Hannibal (MO) und gehört zum Mark Twain Boyhood Home & Museum.
In dem angrenzenden Gebäude verbrachte Samuel Longhorne Clemens, der unter dem Pseudonym "Mark Twain" Großes schuf, einen Teil seiner Kindheit und Jugend.
Hier fand der Künstler Inspiration für seine Geschichten - auch für die Episode über den klugen Anstreicher (s.o.), die vielleicht bekannteste Passage aus den Werken Mark Twains.
Übrigens: Auch Becky Thatcher´s Haus steht hier.
(Falls Sie Becky Thatcher nicht kennen: Die Abenteuer des Tom Sawyer ist ein großartiges Buch.)
Directions
Das Mark Twain Home & Museum liegt in Hanibal (MO). Abgesehen von dem Museum gibt es in Hannibal wohl wenig zu sehen:
"If you're a Mark Twain reader and believe it necessary to visit the Mark Twain Cave of Hannibal, think again. There's little to nothing to do in this town except stay at one of its poorly rated hotels and visit their chocolate stores. The town feels like it's dated about 35 years. Quite possibly they don't know about the Internet, and if they do, it's probably dial-up. Mark Twain was a great man, but it's just not worth the trip to visit a city lacking so much in culture that the cemeteries and methamphetamine starts to look fun. But hey, at least we still have the chocolate shops. It's just not the dream vacation of a lifetime." (Quelle: www.mandatory.com)
GPS-Koordinaten Mark Twain Boyhood Home & Museum
(WGS84, Dezimalgrad, Umrechner: hier)
GPS Mark Twain Boyhood Home & Museum: 39.711861, -91.357611
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1992 habe ich mit eigenen Augen gesehen, was sich zuvor bloß in meiner Fantasie existierte. Den berühmten weißen Zaun gibt es ja wirklich!
Interessieren Sie sich für amerikanische Literatur? Dann auch bestimmt für Mark Twain, an dem kommt man nämlich kaum vorbei.
Wenn Sie in der Nähe sind und ein wenig Zeit haben, ist ein Besuch sicherlich lohnend.